Proust

        Kann ich schreiben und leben, und mit dem Schreiben das Leben wieder erreichen? So wie Proust seine Jahre verbringt, um seine Zeit wieder zu gewinnen? Und was lese ich in diesen Seiten, über so viele Jahre geschrieben, korrigiert, ergänzt, verändert? Kann ich dadurch mein Leben wieder gewinnen, durch das Lesen, in der Zeit, die ich mit dem Lesen eines Textes verbringe, der nicht mein Text ist? Oder ist aus diesen vielen hundert Seiten, diesen Tausenden von Wörtern und Sätzen nur dieser eine kurze Augenblick gewonnen, wenn wir uns erinnern, an eine vergangene Zeit, in einem einzigen Augenblick die ganze Vergangenheit, die wir hinter uns gelassen haben, wieder öffnen, sie betreten als ein neues Jetzt. Hat Proust seine Jahre damit verbracht, um mir diesen einen Gedankengang zu liefern? Mir und allen Lesern.

        Lebe ich denn nicht so? Mit meinen Briefen, die herumgeschickt werden, die auf einer einzigen Seite manchmal die Erinnerung aufrufen für einen kurzen Moment. Ein Moment beim Lesen, eine ganze weite, verschwundene und lebendige Welt, wieder angefasst, wieder gelebt, wieder erlebt.

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        In Nizza habe ich den letzten Teil der Recherche gekauft: Le temps retrouvé und seither, auch weil ich Corona habe, habe ich darin gelesen und auch wieder den ersten Teil, die Geschichte von Swann und Odette und Gilberte… auf Deutsch, auf Französisch. Viele dieser Figuren, Personen, und die Gespräche und die Gedanken des Erzählers, ist es dieser Marcel oder ist es ein Teil, ein verborgener Teil von ihm?

        Alle diese Geschichten und Anekdoten, die Krankheit, ob eingebildet oder nicht, von Tante Leonie. Liegt der Ort Combray an der Marne im Kriegsgebiet, ist Balbec in der Normandie; wir können diese tatsächlichen Orte besuchen und uns ein Bild davon machen, können uns das Haus oder das Hotel zeigen lassen. Und dann das Erlebnis mit der Madeleine: alle Erinnerungen.

        Aber es sind nicht meine Erinnerungen, es sind nicht meine Erlebnisse, es sind nur die von einem Marcel, der sie sich wieder vor Augen führt, schreibend davon berichtet und ihnen wieder nahe kommt, so nahe, wie in einer fernen Wirklichkeit. Es ist seine Wirklichkeit und es ist sein Leben/Schreiben, das er führt und im Schreiben wieder auferstehen lässt. Ist es mein Leben?

        Soll ich dem Baron de Charlus folgen in seine Niederungen, (gesellschaftlich), oder soll ich mich an jene Gilberte, jene Madame de Verdurin, an die Köchin, an seine Eltern, an seine Freunde, einige sind im Krieg gefallen, erinnern? Tut er das selbst durch sein Schreiben, sein unablässiges kontinuierliches Schreiben, Tag für Tag? Erinnere ich mich an das Hotel Ritz, in dem er, Marcel, verkehrte, in dem ich selbst gewesen bin und mich über das Gold in den Toiletten wunderte?

        Das ist mein Leben, ist meine Erinnerung. Die Sonne, die in sein Zimmer auf die Vorhänge schien, ist jetzt die Sonne, die mir ins Gesicht scheint, da ich an diesem spätsommerlichen Tag auf dem Balkon sitze, in der Stille, und schreibe. Stille nur gestört durch einige entfernte Automotoren, ein Hubschrauber fliegt vorbei, eine Taube gurrt.

3.10.2022