Der Schreiber

Der Schreiber ißt, trinkt, bewegt sich, öffnet einen Raum, den es nicht gegeben hat. Den es nicht geben wird, ist hier, ist hier dennoch, im letzten Licht des Tages, damit er verschwinden kann. Die Frage, die letzte Frage vor dem Gesetz. Ein kleiner Tod bestimmt den Tag, ein einzelner verlassener Gedankenweg.

Hier, hier lebt er, hier geht er von Ort zu Ort. Schauen. Nachschauen, Alleinsein, Schauen. Leben.

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Von einem Mal schauen. Vorübergehen. Das Ziel, im Gehen, nicht mehr sichtbar. Musik fährt dazwischen oder ein neues Wort, als würde gerade das das Leben beschreiben können.

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Der Schreiber bricht auf. Am 25. Mai, denn die Protokolle müssen geführt sein. Nun kann er sagen: niemand kennt mich, ich bin allein, und ohne Namen. Die Schreiberei, die Bewegungsverben, die Tatsachen, daneben ein anderes Wort. Wer, wer lebt in dem, löst sich auf, den Körper prüfen in einem Anlauf, in den Übungen der Beine und Arme. Währenddessen redet der Mund.

Der Schreiber ist von einem fremden Ort, er sucht eine Sprache. Seine?

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Der Schreiber geht durch die Champagne, spürt die Muskeln zittern, geht durch die Orte in der Sonne; Begrüßungen werden gegeben.

Der Stoff des Hemdes, der Schweiß über den Augen, der kürzere Atem, die Schmerzen und die Anstrengung. Das sind die Kreisläufe, wenn er über den Fluß geht und nicht mehr die selbe Brücke benutzen will zur Rückkehr. So weitet sich ein Weg zu einem anderen Weg, Umweg wird zur Abkehr, Ankunft wird zum Aufbruch, weiter, weiter als er denkt.

Im Morgengrauen träumt er. Des Nachts spricht er mit den Exilierten. „Le Royaume et l’exile“(1).

Die Reihen der Soldatengräber sieht er. Rücken an Rücken die Kreuze, die Steine. Er liest die Namen, ist ein Leser. Morgen schon besucht er die anderen Stätten, die in den Führern stehen, damit er sie sehen kann. Doch wer weiß etwas von der soundsovielten Division. Der Coloniale, ja Céline (2) , ja, Apollinaire (3) , Artillerist. Der Schuß am Kopf.

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Als er die Gräber sah, weinte er. Doch er trug eine Sonnenbrille, und niemand bemerkte es.

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Der Schreiber zeigt sich sozusagen nackt. Was heißt das? Gibt es eine Lösung. Denn die Hände sind im Mangel. Der Mund brennt. Dazu trinkt er eine Flasche, auch das allein.

Armer Jean-Jacques  (4): „nur der Böse ist einsam“.

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Im Café nebenan lockt Musik am Nachmittag. Niemand ist da, sitzt im Schatten und hörst die Schlager. Am Morgen bist du losgefahren, in den Tälern hat es andere Wörter für das Glück gegeben. In den Kapellen liest du die Namen, gibst Auskunft über Deutschland.

Die Nachmittage im Schatten und die Gespräche der Männer und Frauen, die vorfahrenden Autos, Billardspiel, die Beschreibungen der Heldentaten, in Email. Immer die Totenlisten.

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Während der Schreiber das Haus verläßt, beginnt nebenan eine Stimme; sie singt:

„Ich lebe nicht eigentlich hier, aber ich singe!“

Das hat er vielleicht geträumt, jetzt sagt eine Frau:

„On s’aime!“

und lacht.

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Er will nach der Stadt Rethel, die er nicht kennt. Er wundert sich über die Lerchen in der Luft. Er meint, Vergleiche ziehen zu dürfen. Und wiegt sie hin und her. Nicht aufschreiben, nicht schreiben.

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Das Licht ändert sich, die Schatten wandern.

Im frühen Morgen noch aufbrechen, das Radio: „Make love, make love!“ Auf den Feldern ist ein Glanz, darüber die Vögel, in die Umgebung weisen Hinweistafeln, er steigt in die Kavernen hinab.

Die Erinnerung an die Liebe ist die Erinnerung an einzige Bewegung, während er schon alleingelassen ist. Eine Bewegung der Hand, des Kopfes, der Atem, eine Bewegung des Herzens. Einmal, einmal.

Die Briefe werden nicht geschrieben, Papier und Umschläge fehlen. Sprechen. Sein.

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Schließlich weiß der Schreiber, daß das Herz keine Fragen aufnimmt. Das Herz lebt anders. Schließlich.

„Lieber Jean-Jacques, was könnten wir uns in Gesprächen ergehen. Das Herz würden wir untersuchen, wie stark es sein kann und wie eigensinnig, immer wieder würden wir uns wundern, wie stark es ist, wenn es sich wagt.“

*

Von den Verlusten bleiben uns die Reste. Die Mühsal bleibt bei uns, die Arbeit an der Seele, die Arbeit im Kopf. Auf dem Herz entstehen Flecken, stärkere Kraft.

In den leeren Wohnungen werden Bilder gezeigt: in einer Stadt für ihn am Ende der Welt. Farben, auch das Rot und das Schwarz.

Die Reste sovieler versuchter Leben sind in uns spürbar, die Scheiterungen. Mit jeder unserer Bewegungen ist das hörbar: unsere Klapperschlangenrassel.

Dann reden wir über die Kunst, die Wahrheit, die Fragwürdigkeit. Der Schreiber schreibt am Abend, und zwar in einer Bar:

„…doch das Herz ist stärker.“

Warum schreiben, warum schreibt der Schreiber noch? (5)

(1) Eigentlich: „L’Exile et le Royaume“ (Das Exil und das Reich) von Albert Camus.

(2) Jean-Ferdinand Céline, Autor von „Voyage au bout de la Nuit“ (Reise ans Ende der Nacht), Kriegsfreiwilliger 1914.

(3) Guillaume Apollinaire, Autor von „Alcools“, ebenfalls Kriegsfreiwilliger, wird 1917 am Kopf verwundet.

(4) Jean-Jacques Rousseau, Autor der „Confessions“. Die Bemerkung Diderots, daß der Böse die Einsamkeit suche, bezieht er auf sich selbst.

(5) 2. Kapitel meiner Enzyklopädie, Band 4, 1985-1989: Der Schreiber (1989).

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