Die verzettelte Zeit

Lieber Ralph !

Es ist diese leicht näselnde Stimme, die erzählt. Ich erinnere mich an sie, denn vor einigen Jahren hat sie schon einmal in deiner Sendung „Fortsetzung folgt“ gelesen. Ich erinnere mich auch an die Art des Textes, die diese Stimme damals vorgelesen hat – und nun ist sie für zwei oder drei Wochen wieder da – und sie quält mich. Doch weshalb höre ich überhaupt zu und wieso spüre ich dieses Unbehagen?

Es könnte sein, daß Peter Kurzeck eine Figur erfindet, deren Stimme er dann ist, der Erzähler, eine erfundene Person, die entlang seiner Tage Zettel beschreibt, um aus diesen Zetteln später sein Buch zu machen, oder zunächst nur, um die verfließende Zeit festzuhalten, sie in einer allumfassenden Notation zu fixieren.

Das mag schon sein. Ich vermute aber, daß in dieser (erzählten) Person ein gewaltiges Stück des Schreibers selbst enthalten ist, der seine Notizen für eine biografische Erzählung zusammensucht.

In der Radiolesung, – es war die 14. in dieser Reihe – , beschreibt er, wie ein Karton mit den Zetteln aufbewahrt worden ist, und daß die Gefahr bestand, daß dieser Karton mit seinem Inhalt verloren gehen oder umgeschüttet werden könnte. Er sagte zu seiner Tochter: „unser ganzes früheres Leben verschüttet.“

Anscheinend schreibt er Tag für Tag seine Zettel voll, vielleicht auch unterwegs in der Straßenbahn, vielleicht sogar im Gehen. Er meint rückblickend, dies sei das gerettete Leben, das durch ein Verschütten, ein Durcheinanderbringen der Zettel verloren gehen könnte; ein Leben aufgeschrieben auf den Zetteln und damit so nah am Verlust und so nah am Vergessen.

Wo aber ist das Leben, wenn es nur fixiert auf dem Zettel zu existieren scheint? Es erinnert mich an die Touristen, die durch ihre Kameras oder heutzutage durch ihre Handys blickend den Markusplatz fotografieren, oder den Frankfurter Römer, um die Erinnerung im Augenblick des Geschehens aufzubewahren. Sie leben nicht das Leben, sondern das Abbild eines Lebens, ein Simulacrum, das die Wirklichkeit, das eigentliche Leben simuliert, es abbildet, verdoppelt, um es so zu konservieren.

Wie erreicht er sein verzetteltes Leben?

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Marcel Proust hat seine Suche nach der verlorenen Zeit aufgezeichnet, als diese Zeit lange vergangen war: verschwunden die Menschen, verflogen die Gespräche, die Begegnungen, doch in der Erinnerung wieder auferstanden, in seinen Sinnen lebendig – lebendig durch diesen einen Geruch der Madeleine…

Hat er diese Ereignisse aufgezeichnet, als sie sich ereigneten? Hat er sein eigenes Leben begleitet mit der fortwährenden Aufzeichnung der gerade stattfindenden Ereignisse?

Peter Kurzeck läuft durch sein Leben – oder es ist sein Alter Ego – und notiert auf, was zu notieren ist: das heißt: ALLES. Ist er vielleicht ein Stenograf? Benutzt er eine Kurzschrift, um so viel wie möglich aufzuschreiben, um nicht zu weit hinter der Zeit hinterherzuhinken?

Was macht er aus den auf den Zetteln aufgeschriebenen Notizen? Sind es Stichwörter, sind es ganze Sätze? Wie benutzt er sie, um daraus ein Buch zu machen? Oder erfindet er sich selbst, als Zettelschreiber? Ist gar die Person selbst erfunden? Ist die lesende Stimme die Stimme eines Vorlesers, der vorgibt, der Autor selbst zu sein? Der Autor, der von den geringsten Ereignissen und Zwischenfällen berichtet. Warum berichtet er, warum erwähnt er jenen Zwanzigjährigen, der in das Eiscafé kommt, das Auto auf der Straße stehen lassend, zur Toilette eilt, sich Zigaretten aus dem Automaten zieht und wieder verschwindet?

Was bringt mir diese Episode nahe – ist es die Teilhabe an dem Leben eines Unbekannten, die Teilhabe an dieser Wiederholung  durch den erzählenden Bericht? Ist er dazu da, uns glauben zu machen, es sei wirklich so gewesen, in jedem winzigen Detail? Das Gespräch sei unterbrochen worden und die Gedanken des Schreibenden ziehen weiter, das Auto, der Autoschlüssel, das Eis, das Eis in der Eisdiele, der Grappa, der getrunken werden mußte, denn wir befinden uns in einem italienischen Eiscafé; die Zigaretten, die geraucht wurden, denn damals wohl konnte man noch rauchen in den Kneipen, Gasthäusern und Restaurants, in den Eiscafés.

Es ist jedes Detail  aus der verflossenen Zeit, aus einem Damals, das heraufbeschworen werden soll: eine unendlich scheinende Folge von Assoziationen, nur im Kopf des Autors zusammengefügt – für den Leser, den Hörer, der ich bin, beliebig, gleichgültig und so zehren sie mein Leben auf, verzehren die Zeit, in der ich zuhöre, in der ich leben will.

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Andy Warhol filmte 24 Stunden das Empire State Building, um die Zeit zu dokumentieren, um uns den Ablauf der Zeit zu zeigen, indem er sonst nichts (dazu) tut – er ist ein Dokumentar.

Kurzeck ist ein Pointillist. Aus jedem einzelnen Punkt seiner Zeichnung entstehen andere Farben, andere Bilder, doch Kurzeck ist kein Maler: bei ihm entsteht nur ein farbiger Nebel, der nichts preisgibt, nichts festhalten kann, der mich, da ich einige Minuten in deiner Sendung zugehört habe, quält.

Warum höre ich überhaupt zu? Ist diese Lesung nicht die Wiederholung der früheren Lesung – ich kann das nicht entscheiden, denn der Text könnte beliebig einsetzen, sich in einer Schleife drehen und von vorne anfangen. Doch es wird auf die anderen Bücher Bezug genommen, und so ist es wohl ein neuer Text: die Fortsetzung einer unglaublichen pedantischen Akribie, die das Leben zerstückelt und zerstört (1).

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Auch Christian Boltanski beschäftigt sich mit der verfließenden Zeit. Er hat seinen Herzschlag verkauft, dafür überträgt er die Töne seines Herzschlags. Er hat Familienalben gesammelt und zeigt die Fotos. Er hat die Hinterlassenschaften von Verstorbenen gekauft, etikettiert und ausgestellt. Er hat die verflossene Zeit faßbar gemacht, weil wir uns dieselben Fragen stellen: „was bleibt? – was bleibt von mir?“

Ich könnte mir Peter Kurzecks Zettelwirtschaft als Kunstkonzept vorstellen: jemand sagt sich, ich zeichne jetzt alles auf und später stelle ich die beschriebenen Zettel, die Spur meines Lebens, in Galerien aus. Ich zeige meine Notate hinter Glas, wie in einem Museum, als konservierte Zeugnisse des verflossenen Lebens. Die Betrachter könnten nahe an die gerahmten Zettel herantreten und könnten einzelne Passagen daraus lesen, vielleicht vorlesen. Das Wichtige aber ist die hinterlassene Spur und die Gesamtheit der Zettel, als Summe. Es ist auch nicht notwendig, den Text zu entziffern, er könnte in einer fremden Sprache geschrieben sein, es könnten nur Linien sein oder einzelne Buchstaben und Zahlen, wie diejenigen, die Hanne Darboven jahrelang gezeichnet hat.

Dann könnten die Betrachter, die zu Zeugen seiner Zeit geworden sind, in diesen Lebenszeichen herumwandern und sie sich zu eigen machen.  Es wäre eine Beziehung geschaffen zwischen dem Verflossenen und dem Gegenwärtigen, das in die Vergangenheit übergeht. Und ich könnte mich dorthin begeben und könnte mich in die Reihe der Zuhörer einreihen, die dem anderen Besucher, der ab und zu ein Wort entziffert oder ein Kalenderdatum, zuhören – auch ich würde ihm zuhören oder selber zu lesen beginnen.

E.

PS.

Die verfließende Zeit ist ein Thema in meinem eigenen Schreiben, seit jeher. Einige Passagen stelle ich dir im folgenden Essay zusammen.

 

(1) „Der Versuch, an der Realität Maß zu nehmen, das Leben als Modell zu betrachten, würde den Bericht auch dann schon zum Modell in verkleinertem Maßstab (…) werden lassen, wenn nichts darin ausgespart, auch das kleinste Detail getreu festgehalten worden wäre. Denn ein anderes ist die Ausdehnung eines Lebensabschnitts in der Zeit und im Raum, ein anderes deren Ausdehnung im Bericht. Ein anderes sind Ereignisse, an denen ich teilgenommen habe, ein anderes Ereignisse,  an denen ich einen Leser teilnehmen lasse.“ – So schreibt Gisela Steinwachs in ihrer Analyse von André Bretons ‚Nadja‘: Mythologie des Surrealismus oder Die Rückverwandlung von Kultur in Natur. Neuwied,Berlin (Sammlung Luchterhand 40), 1971, S. 94f. (Ich unterstreiche).

Dr. Ralph Schock – Arbeitet beim Saarländischen Rundfunk, SR2 – Kulturradio in Saarbrücken und ist stellvertretender Gruppenleiter für die Abteilung „Künstlerisches Wort“. Mit ihm habe ich ein Gespräch über meine Enzyklopädie geführt, das 2004 im SR2 gesendet worden ist und das als CD erhältlich ist (http://aq-verlag.de/literatur/ralph-schock/). Mit dem SR2 habe ich die Rezitationen der Duineser Elegien und der Sonette an Orpheus durch Irene Laett herausgebracht. Diese können hier bestellt werden: http://www.aq-verlag.de/audio/.

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