Vergangenheit

April, November 2009

Liebe Katrine!

Heißt es, die Vergangenheit belaste, blockiere im eigenen Leben?
Du fragst, was mit meiner Erinnerung sei, was sie bedeute, was es für mich und vielleicht für andere bedeute, von den Nächten zu erzählen (zu hören, zu lesen), den Nächten mit den Malerfreunden, die ich treffe…

Als ich Federle in Thalwil, das ist ein kleiner Ort bei Zürich besuchte, wo er damals neben einer Tankstelle wohnte, fuhren wir in die Stadt, um Menschen zu sehen, die neueste Musik zu hören, keine CDs, sondern die alten schwarzen Platten. Wir mußten selbst in den Laden, um sie zu finden und anhören zu können. Es gab kein Internet, keine Downloads, es gab nur den faßbaren Gegenstand: schwarze Scheiben.

Mit welcher Andacht, mit welcher Gedankenkonzentration hat er seine Bilder gemalt, malt er sie immer noch. Wenn ein Bild nur aus einem einzigen Winkel in einem Rechteck besteht, der Winkel das Rechteck in zwei Teile zerlegt, und nicht mehr zeigt als dies, wo ist da die Kunst? Ist ein kleines Dreieck ein Berg, eine Pyramide?
Es geht um die Farbe, um den Farbauftrag, ein Grau oder ein blasses Blau: die Farbe, die mehr ist als Farbe, die Farbe, die mehr sein will als Farbe. Die Formen so einfach und sie verdrehen sich immer wieder in ihr Gegenteil: weil sie als ihr Gegenstück gesehen werden können, gesehen werden wollen.
Weil im Bild das Malen spürbar wird als eine Handlung der Andacht. In der Andacht, der Versenkung in diese Handlung, in sich selbst.

Hie und da haben wir darüber gesprochen. Hie und da, in dem Zimmer, das sein Atelier gewesen ist. Viel öfter sprachen wir über die Frauen, die wir vorbeigehen oder in den Geschäften sahen, oder die uns gerade verlassen hatten. Wir sprachen über die nächsten Bilder, Ausstellungen, die Texte zu den Ausstellungen, die Bücher, die wir machen wollten. Die wir dann auch gemacht haben, die wir herumgezeigt haben. Die wir immer noch herumzeigen, wie Ikonen.

Die Bücher, die wir immer noch machen, die Textstücke, die ich immer noch schreibe als eine Ansammlung von Wörtern, als ein Erinnern. Ich greife nach den Wörtern, die mir zukommen und ich schreibe die Sätze, wie sie hier stehen. Ich schreibe von einer weitentfernten Vergangenheit.

Hat nicht die Inquisition in den Verhören die Spuren gelegt von den Handlungen der Menschen, die sie befragten, die sie aushorchten? – Bin ich mein eigener Inquisitor, meine eigene Rückbesinnung, um dann sagen zu können – so könnte es gewesen sein, so ist es gewesen, so habe ich es mir gewünscht, erdacht, erträumt, so gehe ich durch mein Leben und durch das Leben anderer. Kleine Zeichen, kaum merkliche Gebärden, ein Brief vielleicht, wie immer.

Ist gepunktet die Zeit mit Vergangenem, mit Vergangenem, das gegenwärtig ist, dem Vergangenen, das verflossenen ist, dem Jetzt, anderswo.

Gepunktet von Vergangenem. Die Städte, in denen du herumgezogen bist. Die Stadt Basel mit ihrer Kunstmesse, die Kunst als Marktobjekt; doch Andacht fehlt.
Ich gehe durch die Stadt, besuche die Galerien, die Museen und die Gasthäuser.
In der Fondation Beyerler wird der Kunst das Exotische gegenübergestellt. Ich kenne das, aus den Studien, aus meinen Überlegungen und aus den Gesprächen: der Einfluß des Primitiven auf die Moderne.

Ich selbst bin der Primitive, der seine Masken schnitzt und seine Totems mit sich herumträgt, seine Fetische, denn sie sind das Gemachte, das von uns selbst Hergestellte, Gelebte.

Es ist dies meine Liebe für die biografischen Einzelheiten: wir sitzen irgendwo und nach Jahren kramen wir die winzigen Details wieder hervor, weil wir gerade damals und irgendwo, dort, eine bemerkenswerte Erfahrung gemacht haben, oder vielleicht haben wir nur eine Freude verspürt oder einen starken Schmerz.

Die Sehnsucht nach einem Aufbruch, Ideen zu neuen Bildern, und neuen Sprachen. Eigene Sprachen, wie die Sprache Tokajan, die von nur zwei Menschen gesprochen wird, neue Sprachen für das innerste Gespräch, für das Abwägen der Dinge, der Geschehnisse, die dich geprägt haben.

Präzision, im Sprechen, im Schreiben, im Leben. Das Lachen und die Leichtigkeit. Die Gewißheit für alle Treffen. Die Begeisterung für die Arbeit, die eigene Vision.

E.

Katrine Hellmerichs, lebt in Kassel, unterrichtet 
Französisch.
Ein Mensch der Sehnsucht, der Träume und der Erfüllung.

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