Das Interview

25.7.2010
Platamonas

Lieber Anselm!

In dem Interview, das du anläßlich der Verleihung des Meret Oppenheim Preises gegeben hast, sprichst du von dem Prozeß der Transformation. Dieser Prozeß führt von einer ursprünglichen Idee zu einem Konzept, aus dem mehr und mehr die persönlichen Elemente getilgt sind, um es unpersönlicher zu machen, oder sagen wir, um es von den individuellen Teilen zu befreien – oder sich ihrer zu entledigen.

Diesen Prozeß habe ich angewendet, um aus meiner „Enzyklopädie“, die ich über fast 30 Jahre geschrieben habe, die „Quintessenz“ herauszufiltern. Es ist ein seltsamer Vorgang, denn bereits durch das erste Schreiben (der enzyklopädischen Texte) gab es ja eine Entpersönlichung des Persönlichen. Um dasjenige, was gesagt werden will, verständlich zu machen, brauchen wir die Entfremdung – der erste Schritt zurück aus dem Privaten. Ich habe darüber bereits in dem Essay „Der Maler, der Schreiber“ geschrieben…

Nun kommt zu dieser Entfernung des Ursprünglichen die zusätzliche Entfernung der „Quintessenz“. Und dadurch gewinnt der Text, oder das Werk, eine andere Intensität – eine andere Gültigkeit.

Dennoch habe ich daran gedacht, aus demselben Text der „Enzyklopädie“ eine komplementäre Quintessenz herauszuziehen, in dem das versteckte Private hervorgezogen und genauer benannt wird.

Dieser Brief an dich, wie die anderen Briefe, die ich hier versammele, ist ein privates Stück – ein privates Schriftstück und es vereint die Erinnerungen, die mit deiner Person verbunden sind. Zugleich mit dem Privaten eröffnet sich das Allgemeine, denn unsere individuellen Schicksale und Erfahrungen haben eine enge Beziehung zu dem Nicht-Individuellen, dem Allgemeinen in der Struktur, in der Wiederholung: sie sind miteinander vergleichbar.

Das Private – das persönliche Erleben. Dazu gehört auch, daß du es warst, der mir die Nachricht vom Tod Elisabeth Kaufmanns geschickt hat, in dem ernsten Ton, den eine solche Nachricht fordert. Und es gehört auch dazu, daß ich einmal Agnes Barmettler besuchte, als sie in dem alten Schulhaus in Dulliken wohnte. In einem der Klassenzimmer war eine Art Zelt aus weißem leichten Stoff aufgebaut, das sich bewegte, wenn man sich näherte. Später, als wir uns kennengelernt hatten durch Elisabeth in ihrer Galerie in Zürich, sagtest du mir, es sei eine deiner Installationen gewesen. Die leichte Bewegung dieses Zeltes ist eine Erscheinung aus einer stillen anderen Welt.

Nun sitze ich auf der Terrasse, trinke meinen Morgenkaffee, blicke auf den wolkenverhangenen „Thron des Zeus“ und grüße dich.

E.

 

Anselm Stalder, Schweizer Maler; lebt und arbeitet in Basel und Bern. Er gilt als der „Philosoph“ unter den Schweizer Künstlern

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