Bereit zur Abfahrt

Lieber Henning,

wir sind nun bereit zur Abfahrt.  Das Schiff liegt noch im Hafen, es ist früher Morgen, die Stadt ist schon belebt, Autos fahren vor, um noch auf die Fähren zu kommen. Die Mitglieder der Familie sind zusammen, manche sitzen schon auf ihren Sitzen, die wie Flugzeugsitze aussehen. Seeluft ist nicht zu riechen, denn das ganze Deck ist geschlossen, was man riecht sind die Abgase der Autos auf den unteren Etagen, durch die man hochsteigen muß.

Unser Schiff ist ein Katamaran, wie sie bei Hochgeschwindigkeitsrennen benutzt werden. Die Dimensionen sind andere, es gibt keine Segel, sondern große Motoren, die das Boot bewegen, wenn es losfährt.

Noch liegen wir im Hafen; auf den Gebäuden sind die Leuchtreklamen erloschen. Auf dem Hochhaus gegenüber steht KORONAKIS; ein riesiges Fährschiff der ANEK gleitet an uns vorbei und läuft aus nach Kreta; sie werden wohl acht oder neun Stunden für diese Strecke brauchen. – Andere Schiffe sind über die Toppen beleuchtet, Rauch steigt schon aus den Schornsteinen, LKWs fahren in die Schiffsrümpfe, Taue werden losgeworfen, es gibt eine Lautsprecherdurchsage in Griechisch und dann in Englisch, aber beides ist unverständlich.

Bald legen wir ab und fahren in den Archipelagos. So wird er auf den Seekarten bezeichnet, eine liegt am Info-Stand gleich neben meinem Sitz. Unsere Route ist darauf eingezeichnet: nach dem Halt in Paros, wo wir aussteigen werden, fährt das Schiff weiter nach Santorin. Spricht man bei einem derartigen Schiff von ‘fahren’ oder immer noch von ‘segeln’? oder heißt es nur im Englischen ‘to sail’?

Die Schwester kommt nun hoch, sie hat den Wagen in der Fähre untergebracht, während wir schon mit den anderen die Treppen hochgestiegen sind und unsere Plätze gesucht haben. Sie bringt gleich Kaffee und Süßigkeiten für alle, obwohl jeder sein kleines Päckchen bei sich hat.

Ich sitze dem Onkel Jannis gegenüber, mit dem ich vor Jahren das Nationalmuseum in Thessaloniki besucht habe. Während wir die Ausstellungsstücke betrachteten, las er mir mit leiser Stimme die griechischen Etiketten vor und ich verfolgte den Text auf dem Etikett daneben, auf dem die Beschreibung in Englisch war. Danach gingen wir in die Stadt, um Ouzo zu trinken und etwas dazu zu essen. Von diesem Tag rührt unsere Freundschaft und unser gegenseitiges Vertrauen. – Nun sitzen wir wieder zusammen und führen eine philosophische Unterhaltung über die Bewegung, mit wenigen Worten, denn mein Griechisch ist dürftig.

Das Suchen der Passagiere nach ihren Plätzen hat sich beruhigt, die Taschen sind verstaut, die aufgeregten Gespräche haben sich gelegt.

Das ist eine Welt, die auf die Seedistanzen ausgelegt ist, die die Entfernungen und die Zeit, die notwendig ist, sie zu überwinden, in den Lebensrhythmus übernommen hat, notgedrungen. Wenn man von einer Insel zur Hauptstadt fahren muß, so ist das nicht, wie in den Bus steigen, der pünktlich ankommt und pünktlich abfährt. Das ist die Natur, die dazischenfahren kann mit Wind und Wellen, Sturm und Regen. – In der Hafeneinfahrt von Paros, wohin wir ja fahren werden, lief vor Jahren ein Schiff auf Grund und sank mit achtzig Menschen, die nicht mehr gerettet werden konnten. In Sichtweite des Ziels. Oder die Schiffe dürfen nicht auslaufen, wie heißen die starken Winde, die plötzlich auftreten und das Meer aufwühlen? Dann kommt das Treiben in den Häfen, das Einlaufen und Abfahren zum Erliegen. Dann bist du festgenagelt auf unbestimmte Zeit. Oder der Schiffsmotor hat “ein Problem” und die erwartete Fahrtgeschwindigkeit wird nicht erreicht. Die anderen Schiffe ziehen an dir vorbei…

Oder es passiert nichts, und alles ist ganz normal.

E.

Der Bericht über die Taufe : Ekatontapiliani.

Henning Kniesche philosophiert und schreibt 
über die Wahrnehmung und ihre Freiheit.

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