Edmund Kuppel

Dieser Edmund Kuppel montierte vor über dreißig Jahren zum ersten Mal einen Rückspiegel vor seine Kamera, um zugleich mit der Aufnahme des Objektes auch dasjenige “mit-“zufotografieren, was hinter dem Fotografen war. Dadurch ist in jedem Bild ein kleiner Ausschnitt dessen enthalten, was dem aufgenommenen Objekt gegenüberliegt.

Dieses Verfahren hat er in der Eiffelturm-Serie angewandt, wo stets der Eiffelturm fotografiert wurde – oder zumindest wurde in seine Richtung fotografiert – während im Rückspiegel eine touristische Sehenswürdigkeit zu sehen war. Natürlich war jede Aufnahme durch den Punkt der Aufnahme – dem markanten Punkt gegenüber dem Eiffelturm – bestimmt: Pont d’Iéna, Palais Chaillot, Musée d’Art Moderne, Sacre Coeur, Place de la Concorde, Arc de Triomphe, Louvre, Opéra, La Madelaine, Centre Pompidou, Petit Palais, Notre Dame, etc. Das Beziehungssystem zwischen dem Turm und dem Aufnahmeort wird uns so vor Augen geführt und wir entsinnen uns: ja, so haben wir uns orientiert! Das haben wir auch gesehen, es ist uns aber nicht aufgefallen!

Bis in die 70iger Jahre des letzten Jahrhunderts war in den meisten Pariser Bistrots eine der Wände mit riesigen Fototapeten geschmückt. Diese zeigten Landschaften aus Frankreich, aus allen Teilen des Landes: Flüsse, Täler, Berge, Brücken, Schlösser, Burgen, Seen, Boote, Strände, Waldstücke. All diese Bistrots ist der Fotograf abgewandert und hat seine “dokumentarischen” Aufnahmen gemacht mit dem montierten Spiegel.

Die Fotos auf den Wänden bedecken jeweils eine ganze Seite des Bistrots, und so erscheint auf den Bistrot-Fotos nur die abgebildete Landschaft der Fototapete und nichts drumherum, also kein Rahmen oder Teil der Umgebung, die das Foto als Foto einer Wand erkennbar machen würden. Der geografische Punkt der Aufnahme ist nur durch den kleinen im Rückspiegel sichtbaren anderen Teil des Bistrots zu erkennen. So erscheint eingefügt in die Landschaft etwa die Ecke des Bistrots mit einem Flipper, die Bar mit dem Zapfhahn oder die Flaschen aufgereiht an der Wand.

Die gesammelten Fotos sind gruppiert, denn es gibt zahlreiche Beziehungen zwischen den einzelnen abfotografierten Landschaften und Landschaftsausschnitten. Einmal sind die Unterschiede der Landschaftsaufnahmen nur ein oder zwei Äste, die auf einem der Fotos fehlen, während sie auf einem anderen zu sehen sind. Oder kleine Boote warten am Ufer, um den Spaziergänger im Park von Vincennes zu einem Ausflug mitzunehmen. Ein anderes Mal sind sie verschwunden. Oder das Foto eines Bistrots setzt die Abbildung derselben Landschaft nach rechts oder nach links fort. Ein Angler taucht auf, verschwindet und taucht dann ganz in der Nähe wieder auf.

Ein großes Motiv ist der Fluß, von seiner Quelle in den Bergen bis zur Mündung im Meer.

Gleichzeitig belegen die Spiegelobjekte die Örtlichkeit: der Fotograf, der die Landschaft fotografiert, steht nicht irgendwo in Frankreich, etwa einige Hundert Meter von der Kathedrale in St. Flour entfernt, sondern in einer Kneipe mitten in Paris. Und während er sich um die Stadt in der Auvergne herumbewegt -immer mit Blick auf die Kirche, bewegt er sich doch “in Wahrheit” von einem Bistrot zum nächsten, aber seltsamerweise stellt er fest, in entgegengesetzter Richtung. Denn bewegt er sich um die Stadt St. Flour von Norden nach Süden, so bewegt er sich von Süden nach Norden, wenn er von Bistrot zu Bistrot wandert, um die Aufnahmen zu machen. Die kurzen Kommentare des Fotografen belegen dies.

Es ist eine doppelte Bewegung durch die Wirklichkeit. Ist es wirklich das Bild der Landschaft oder das Bild der Landschaft im Bistrot? Das Foto verliert so die Eigenschaft des Dokumentarischen: der Fotograf macht seine Untersuchung, seine “Recherche”, innerhalb des Perimeters von Paris, kaum begibt er sich in die Vororte und doch bewegt er sich durch einen anderen Raum.

Kommentare des Fotografen sind den Fotos beigefügt. Sie erzählen die kleinen Anekdoten, die sich mit den Fotos, ihren Landschaften und ihren Bistrots verbinden. Der Besitzer des “Record Bar” warnt: “Lassen Sie sich nicht täuschen durch das Bild”. Die Behauptungen der Besitzer des “Iris”, des “L’Univers” und des “Brunel” über die richtige Lage des Schlosses, das auf den jeweiligen Fotos entweder rechts oder links eines Flusses liegt, widersprechen sich. Der Besitzer des “Provinces” kann nichts zu dem Dorf auf seinem Foto sagen, da er es vom Vorbesitzer übernommen hat. Der Besitzer des “Ariel” jedoch kennt sich aus und kann das Dorf benennen, denn er stammt aus der Region…

Der Forscher und Fotograf durchstreift alle diese Landschaften und erkennt die Beziehungen zwischen den einzelnen verstreuten Orten; schließlich kann er sie identifizieren: jener Berg in der Auvergne oder ein Teich in jenem Park, ein Schloß, eine Kathedrale.

Irgendwann verschwinden die Landschaftsfotografien aus den Bistrots: es kann sein, daß eine häßliche Ornamenttapete an die Stelle der Landschaft tritt, wie es im “L’Auxerrois” geschehen ist – ein großer Verlust an Illusion, auch wenn der neue Flipper eindeutig besser ist als der alte!

So ist die Arbeit des Fotografen zu einer dokumentarischen Reise geworden. Wir erinnern uns an “Traurige Tropen” des Anthropologen Claude Lévi-Strauss. Wir wissen, daß diese imaginäre Landschaftsreisen durch die Pariser Bistrots nicht mehr gemacht werden können, alles ist verschollen.

Es stellt sich die Frage: Wer ist dieser Forschungsreisende und Fotograf gewesen, der einen Spiegel vor seine Kamera montiert hat, um authentischer in und mit seinen Fotos sein zu können? Um jedes Mal mit einer Aufnahme auch die Bedingungen der Aufnahme zu dokumentieren. Er trägt den Namen Ferdinand von Blumenfeld – ein Name, der uns an jenen anderen großen Reisenden erinnert, Alexander von Humboldt, mit seinen Reisen in unentdeckte Welten. Auf einem der Fotos hat sich unser Fotograf im Spiegel fotografiert mitsamt seiner Ausrüstung. Der Spiegel dieses Selbstporträts ist der Spiegel an der Wand eines Bistrots; der Spiegel zeigt den Fotografen und nun endlich auch einmal das Bistrot selbst im Vollformat. Von dem Spiegel vor der Kamera sehen wir nur die Rückseite.

Ein Bistrotwirt erinnert sich nach Jahren an jenen seltsamen Besucher mit der Kamera und kramt aus einem Packen alter Fotos eine Aufnahme des Fotografen hervor.

Die Verdoppelung und Spiegelung der Wirklichkeit wird in zwei Landkarten zusammengefaßt. Die eine zeigt die Umrisse Frankreichs. Jeder geografische Punkt der Bistrotlandschaften ist markiert und mit einem Namen versehen, doch nicht mit dem Namen des Ortes, sondern mit dem Namen des Bistrots, in dem das Landschaftsfoto zu sehen war. Die andere Karte zeigt den Umriß der Stadt Paris und hier sind die Bistrots markiert, in denen die Landschaften gefunden worden waren. Die Namen sind nun die Namen der Landschaften und nicht die Namen der Bistrots.

Dies ist  nicht nur eine Verdoppelung, es ist auch eine Verdrehung – genauso wie das Licht, das durch das Objektiv fällt, auf den Kopf gestellt wird, wird die Namensgebung auf den Kopf gestellt.

Die Arbeiten des Bistrot-Fotografen sind in Büchern veröffentlicht. In ihnen setzt sich das Motiv der Spiegelung in einer neuen Ebene fort. Die abgebildeten Fotografien werden begleitet von den kurzen Kommentaren und Berichten des Fotografen selbst. Diese Kurzberichte sind handschriftlich in Deutsch in blauer Tinte verfaßt und erzählen in der ersten Person. Die französische Fassung spricht in der dritten Person, der Text ist gesetzt und schwarz gedruckt.

Erste und dritte Person, Ich und Er, Handschrift und Drucktype, meine Sprache, seine Sprache, das Bild, das Abbild, die Spiegelung, das Foto einer Landschaft, das Foto eines Fotos einer Landschaft, das Foto eines Fotos einer Landschaft mit dem gespiegelten Hintergrund der anderen Seite. Das Foto vom Foto. Die Reproduktion der Wiedergabe, das Echte und das Unechte, das Authentische, das Fragliche, das Objektive, die subjektive Schilderung der Bistrotsbesuche. Wo ist die Realität?

Der vormontierte Spiegel wird in den Fotos mit einem Teil der Tragestange, an der er befestigt ist, sichtbar. Dieses Detail ist ein Beleg für die Wahrhaftigkeit der Aufnahme: das Rückspiegelbild ist nicht in das Hauptbild einmontiert, sondern ist wahrhaftiger Teil der originalen Aufnahme. Dieser Suche nach der Objektivität („so ist es vor und so ist es hinter der Kamera“) steht stets die Illusion der abgebildeten Landschaft entgegen, denn diese ist ja nur Abbild vom Abbild, ein Metabild von Landschaft überhaupt. Nur dieses kleine Rückspiegelbild offenbart den illusionären Charakter der Fotografie, und dies wird nur möglich durch das fotografische Medium und in ihm.

Das einzige „Selbstporträt“ des „Bistrografen“ ist das exakte Komplement zu der Serie aller anderen Bistrot-Fotos, denn in diesem Selbstporträt-Foto wird die gesamte Anordnung (Objekt, Fotoapparat, Rückspiegel) umgedreht. In diesem subjektiven Foto wird die Spiegelung als gespiegeltes Sujet sichtbar: das, was die Landschaft gewesen ist, ist ein Spiegel (der Spiegel an der Wand), der nun den Fotografen mitsamt seiner Apparatur zeigt, und diesmal ist auch der Rand des Spiegels zu sehen, der bei den Landschaftsaufnahmen fehlt.

Der Fotograf ist in das Bild getreten und stellt seine Anordnung zur Schau, gleichsam die Staffelei aus der Malerei. Genauso, wie es jener Velasquez tut, mit der Rückseite der Staffelei, dem Blick zum Betrachter, dem kleinen Spiegel an der Wand, den Mädchen, die das Bild betrachten, das da gemalt wird, aber dessen Gegenstand sie selbst sind.

Rückspiegel des Bistrotfotografen

Rückspiegel des Bistrotfotografen

Doch während der Maler in Velasquez‘ Bild sein Gesicht dem Betrachter zuwendet und ihn anschaut, ist das Gesicht des Fotografen versteckt hinter der Kamera. Nicht einmal in diesem Selbstporträt geht es um die Person des Fotografen. Es geht vielmehr um den Akt des Fotografierens. Zwar ist der Fotograf in jedem Foto zugegen, doch nur im Dienst der Apparatur, mit der allein das Abbild hergestellt werden kann.

Wäre das Rückspiegelbild in das Hauptfoto montiert (wäre es also nicht mitfotografiert oder würde es ganz fehlen), so wäre die der Fotografie innewohnende Illusion ungebrochen. Kaum vorstellbar die zukünftigen Entwicklungen der digitalen Fotografie mit ihrer Manipulierbarkeit. Die Wahrhaftigkeit angesichts dieser potentiellen Machbarkeit leitet sich ab von dem Rückspiegel und der abgebildeten Tragestange, schließlich auch von dem ‚Selbstporträt‘, welches die Apparatur ins Bild setzt – doch stellt sich die Frage: könnte nicht auch dies eine Illusion sein? Kann es am Ende des Zeitalters der analogen Fotografie noch Objektivität und Wahrhaftigkeit der Aufnahme geben, oder wandelt sie sich zu purer Wahrscheinlichkeit?

„Wahrscheinlich ist dies eine Landschaftsfotografie“, könnte es dann heißen, wenn ein Waldstück oder ein Berg zu sehen sind. Vielleicht werden wir nur feststellen können: „Wahrscheinlich ist dieses Foto wahrhaftig“, wären da nicht die Aussagen der Bistrotwirte: „Ja, da kam so ein seltsamer Typ in seinem weißen Overall und einem komischen Fotoapparat…“

Die Realität oder die Fiktivität des Fotografen Ferdinand von Blumenfeld, das Spiegelbild des Fotografen Edmund Kuppel – dies ist eine untergegangene Welt. Anhand einer glücklich auf uns gekommenen Dokumentation können wir diese Reisen in unserer Vorstellung, in unserer Imagination, wiederholen.

Die Resultate, die Relikte der Reisen des Bistrot-Fotografen sind ein Lehrstück über Natur und Bedingungen des Fotografierens, wie es konzentrierter und packender nicht sein kann: was du siehst ist nicht mehr das was du siehst, was du gesehen hast oder je sehen konntest. Die Reisen durch die Landschaften waren schon für den Bistrot-Fotografen imaginierte Reisen in Paris durch das ganze Land. Jeder Ort hat eine Vorder- und eine Rückansicht. Die „Kehrseite der Medaille“, wie es ein Bistrot-Wirt nennt, die dunkle Seite des Mondes für den Fotografen – doch zusammengeschoben in eine einzige Ebene im Rückspiegelbild. Der endgültige Verlust der fotografischen Illusion, bewerkstelligt durch das Fotografieren selbst.

Eine gekürzte Fassung dieses Essays ist in der Kunstzeitschrift FAIR (Wien/Berlin) Nr. 11/IV-2010 erschienen.


Im AQ-Verlag sind einige Bücher von Edmund Kuppel erschienen – hier zu sehen: http://aq-verlag.de/kunst-art/edmund-kuppel/

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